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Schmetterlinge, freie Liebe und Ideologie – Ein Brief über die Inkonsequenz

Montag 16. März 2015

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Vorwort

Dieser Text ist kein weiterer Text über die „freie Liebe“, die „Gefühle“ und die „Dekonstruktion“, er hat einen weiter gehenden Anspruch. Der Text wurde Ende Juli/Anfang August geschrieben und bis Oktober 2013 diente er als Grundlage für viele Diskussionen, die mehr oder weniger kollektiv und informell waren. Sehr reichhaltige Diskussionen, die dazu führten, den Text zu nuancieren und zu vervollständigen, und denen es gelang, zahlreiche Fragen über die ideologischen Zusammenhänge aufzuwerfen, die oft die Art zu Denken und die Beziehungen im französischen anti-autoritären Milieu bestimmen. Wenn also dieser Text kein x-ter Text über die „Gefühle“ ist, so deshalb, weil er in erster Linie von der Ideologie, den „Szenen“, der Inkonsequenz und der Linken (und ihrem Verhältnis der Umkehrung) handelt. Diesem Text gelang es, ein Echo in unterschiedlichen Situationen zu erzeugen, in denen es nicht unbedingt um gefühlsmäßige Beziehungen ging, sondern um eine Menge anderer Fragen, wie die der Machtbeziehungen, des Konformismus eines anti-konformistischen Milieus, die Gegen-Normen, die normieren, die sozialen Rollen und die Beziehungen, in denen Individuen von anderen „konsumiert“ werden, Kämpfe und Kampfwerkzeuge, usw. Eigentlich ein Text, dessen Hauptziel es ist, eine Debatte zu eröffnen, die über ihn hinausgehen wird. Wenn wir uns heute dazu entschließen, den Text zu veröffentlichen, nach einigen Monaten Vorbereitung und spannenden Diskussionen, dann genau um diese Debatte zu beginnen, mit der dem Inhalt des Textes entsprechenden Kohärenz und über die Grenzen der Informalität und unserer kleinen Kreise hinaus. Und wir hoffen, dass er sein Abenteuer fortsetzt.

Oktober 2013
Ravage Editions.


Es ist für einige Generationen des anti-autoritären Sumpfes beruhigend zu sehen, dass die Dogmen, von denen wir zu oft ausgehen, die uns aufessen und uns immer die gleichen Fehler machen lassen, manchmal in Frage gestellt werden. Wenn bestimmte ideologische Prinzipien schließlich menschliche Kollateralschäden verursachen, sind wir in der Lage, sie in Frage zu stellen, sie aufzugeben oder sie neu zu formulieren. Ein Text, der vor kurzem von Gefährten veröffentlicht wurde, provozierte offensichtlich spannende und wichtige Diskussionen [1]. Die Stärke dieses Textes war es, ein wenig zur Individualität zurückzukehren, die wir alle mehr oder weniger durch Dogmen und Ideologien ersetzt haben – und die Individuen durch Personen-Typen. Diese Diskussionen über freie Liebe, Liebespaare, Pluralität, Eifersucht, Nicht-Exklusivität, usw., wurden jedoch vorerst eher unter uns geführt, wahrscheinlich mehr als anderswo in den Milieus, wo Menschen zusammen leben und manchmal das Gefühl der Intimität verloren haben (besetzte Häuser, Kommunen usw.). Es fehlte wirklich der Wille zu einer wahrhaft öffentlichen Diskussion mittels eines Textes, der nicht nur heimlich unter einer oder zwei Gruppen von Freunden herumgehen würde.

„Freie Liebe“ ist ein Begriff, der seit dem neunzehnten Jahrhundert verwendet wurde und der am Anfang zur Beschreibung der anarchistischen Ablehnung der Ehe diente, die aus einer Perspektive der individuellen Befreiung der Frau und des Mannes kritisiert wurde. Die Befürworter der freien Liebe lehnten die Ehe in erster Linie als Form der Versklavung der Frau, aber auch als Einmischung des Staates und der Kirche in die Privatsphäre ab, und setzten ihr die „freie Verbindung“ entgegen. Man setzte sich also dafür ein, dass zwei Individuen einander selbst aussuchen und sich auf weltliche Art lieben konnten, ohne die Erlaubnis des Bürgermeisters und des Pfarrers, und allen den Mittelfinger zeigen konnten, die sich in ihre Beziehung einmischen wollten. In Kontakt mit den libertären edukationistischen [Volkserziehungs-] und Kommune- Milieus am Ende der Belle Époque nahm der Gedanke der freien Liebe in Form der sogenannten „camaraderie amoureuse“ [„Liebeskameradschaft“] eine andere Bedeutung an. Diese war jedoch eher anekdotischer Art, und wir kommen darauf später zurück.
Erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts veränderte der Begriff im Kontakt mit der Hippie-Bewegungseinen Inhalt vollständig. Er bedeutete nun, vielfache und paritätische Beziehungen verschiedenster Art zu haben, aber auch die sexuelle Intimität von zwei auf mehrere Personen zur gleichen Zeit zu öffnen, namentlich in Form des flotten Dreiers und der Sexorgie. Meist fügten die Anhänger der freien Liebe dieser Epoche alldem eine Prise Mystik hinzu (Tantra, sexuelle Magie, usw.)

Die „freie Liebe“, wie sie heute im französischen, amerikanischen oder deutschen [2] anti-autoritären Milieu betrieben wird, ist viel näher an der Sichtweise der Hippies, als an dem anti-staatlichen und anti-kirchlichen Kampf der individuellen Anarchisten für die „freie Verbindung“, die weiter oben erwähnt wurde.

Aber „freie Liebe“ ist ein Begriff, der bereits in sich selbst verzerrt ist, da er in dieser Welt, in der wir alle leben und in welcher wir in keinster Weise frei sind, gebraucht wird. Ãœbrigens ist es nicht verwunderlich, dass dieser Begriff derart in den Volkserziehungs- und Kommune- Milieus der libertären Bewegung am Ende der Belle Epoque gedeihte. Es reicht, diese nervtötende Rhetorik der „en-dehors“ [3] eines Emile Armand oder eines André Lorulot wieder zu lesen, um sich das klar zu machen [4]. Diese Libertären, die generell in wenig offenen Gemeinschaften lebten, wo die Kinder vor der Außenwelt „geschützt“ wurden (ein wenige wie bei den Amischen [5]), die all den lächerlichen Moden der Epoche erlagen (Diät mit Öl, Verbot von Tein und Koffein, ausschließlicher Verzehr von Nüssen, kränklicher Hygenismus [6], absolute Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, usw.), hatten das Gefühl, außerhalb der Welt zu leben und dadurch frei zu leben. Konfrontiert mit der Quantität und der Qualität der revolutionären Aufgabe, die Welt zu verändern, fanden sie die bequemste der ideologischen Ausflüchte: Die Freiheit hier und jetzt zu leben, unter uns im engsten Kreise, in der Gemeinschaft. Sie waren diesbezüglich weder die Ersten [7], noch die Letzten [8].
Aber wir sprechen oft von einer vollständigen und unteilbaren Freiheit, denn was bringt beispielsweise Bewegungsfreiheit, wenn es nirgendwo etwas anders gibt, als auf Straßen voll mit Geschäften, Kameras und Cops rumzuschlendern? Dies gilt auch für die Liebe, wie soll man frei in der Liebe sein, wenn wir nirgendwo frei sind?

Der typische und historische Fehler der Linken, sich damit zu begnügen, die Werte des Feindes umzukehren – eher das Geld den Reichen zu nehmen, um es den Armen zu geben, als die Klassen komplett aufzuheben, die Sprache der Diskriminierung sich zu eigen zu machen und sie in Stolz umzuwandeln (Proletkult, ethnische, geschlechtliche, territorialer und alle möglichen anderen Identitäten...), bessere Politik zu machen als die offiziellen Politiker, eher das Patriarchat umzukehren, als es zu zerstören, usw. – dieser Fehler verschont natürlich nicht das Feld der Liebes- und emotionalen Beziehungen. Es handelt sich dann darum, das Gegenteil der früheren Generationen zu machen, all jener Eltern, die ihre Begehren und Leben ihrer Ehe und Familie opferten. Also hatten wir lange den Eindruck, neue Sachen zu erfinden, während wir nur neue Beziehungsmodelle vorschlugen, die lediglich die alten umkehrten und nach denen wir uns gerichtet haben wie nach jeder anderen Norm.
Die heute herrschende Norm in Bezug auf Liebes- und emotionale Beziehungen im Milieu ist die Aufforderung zur Pluralität, der moralische Befehl der Nicht-Exklusivität, der „Konstruktion einer ausgiebigen Zuneigung“ [9] und die Multiplizierung der Partner. Die Norm wird umgekehrt, und die, die sich der Norm widersetzen, sind Widerspenstige. Die Zweierbeziehung, die sich selbst genügt, ist nun die neue Abweichung, die man niederwerfen muss.
Jedoch scheint es uns heute wichtig zu betonen, dass sich zwei Menschen zusammen wohlfühlen können, ohne das Bedürfnis zu verspüren, die Abenteuer zu vervielfältigen und auch ohne die Treue als ein moralischer Verhältnis zu setzen oder die „außereheliche“ Sexualität aufgrund dummer und kastrierender Werte zu unterdrücken. Aber es wird immer einen Schlauberger oder eine Schlaubergerin geben, der oder die glaubt „freier“ zu sein als die Anderen, um so sein Urteil den Anderen ins Gesicht zu schleudern: „Sie sind ein Paar, was für eine Schande!“

Warum eigentlich sollen wir wie ein Pfarrer oder Bischof auf unsere Meinung zu Dingen pochen, die uns nicht betreffen und die unser revolutionäres Projekt nicht gefährden? Auf Dinge, deren Herausforderungen uns nichts angehen? Ob jemand Exklusivität oder Nicht-Exklusivität in der Liebe befürwortet, ist nicht das Problem des anderen. Nur eines ist wichtig: Dass jeder seine Selbstverwirklichung auf seine Art und Weise suchen kann, ohne durch eine Ideologie geblendet zu werden, sei es die der patriarchalen Gesellschaft der Ehe und der moralischen Exklusivität, oder die derer, die glauben, das Rezept der Freiheit zu besitzen und sich fähig fühlen zu sagen, wer in einer Welt aus Käfigen und Ketten frei ist und wer nicht. Wenn man davon ausgeht, warum sollte man sich weigern zu sehen, dass die Komplexität der Individuen sich mit der Komplexität der Situationen vermischt? Könnte eine Regel alle versammeln, dann wäre sie zwangsläufig unwirksam und beteiligt an der Negation der Individuen. Da sie eine Regel wäre, würde sie aufs Neue die Freiheit hemmen.

Wie viele Broschüren gibt es, die uns erklären, wie wir ficken, lieben und welche Beziehung wir zu unserem Körper haben sollen [10]? Wie viele Normen, die für unsere Verlangen und unsere Empfindungen zu eng sind? Wie viele von uns konnten sich, nach anfänglicher Begeisterung für die trügerischen Neuerungen mit 16 oder 20 Jahren, nicht in den neuen Modellen der Pseudo-Freiheit wiederfinden? Wie viele litten auch daran zu glauben, dass sie nicht für die Freiheit gemacht sind, weil sie nur einen Menschen lieben und weil nur ein Mensch sie liebt? Wie viele geißelten sich, Eifersucht zu empfinden? Fühlten sich von einem Anderen benutzt, unter dem Vorwand seiner Freiheit? Fühlten sich unbehaglich unter den bohrenden Blicken derjenigen, die sich für frei halten in dieser Welt der Herrschaft? Wie viele vergessen, in der sektiererischen und ideologischen Einkapslungen von kleinen Gruppen, dass es noch ein paar Milliarden Menschen um uns herum gibt?

Wie bei jeder ideologischen Verirrung wird auch hier die Realität, noch bevor man sie analysiert hat, dem angepasst, was die Ideologie gerne sehen möchte. Man versucht nicht zu tun, was man möchte, sondern man versucht zu wollen, was man wollen sollte, und es gibt genug Broschüren, Bücher und Texte an den Infoständen der Szene, um uns zu erklären, was man wollen sollte, anstatt von unseren tatsächlichen und individuellen Begierden auszugehen. Folglich geht es in diesem Wettbewerb der Dekonstruktion und der Pseudo-Freiheit darum, der Offenste von allen zu sein und alles auszuprobieren, weil man es muss. Oder genauer gesagt, weil man es muss, um sich dekonstruiert zu fühlen, besser als die Anderen, bewaffnet mit einer neuen Form des Fortschrittsglaubens. Also sieht man nur noch den Balken im eigenen Auge (um die biblische Metapher umzukehren), und man sieht nicht mehr die unendliche Weite der Möglichkeiten, die durch die Zerstörung vor unseren Augen auftauchen. Es scheint, als ob die Selbst-Dekonstruktion und die Zerstörung dieser Welt nicht gut zusammenpassen.

Es war der gute alte Kropotkin, der sagte, dass „auf einige Jahrhunderte Geschichte gegründete Strukturen nicht durch ein paar Kilo Dynamit zerstört werden können“ [11]. Er hatte Recht damit, in dem Sinne, , dass die physische Zerstörung sich nicht selbst genügt, sondern notwendigerweise mit einer tiefgreifenden Dekonstruktion der sozialen Beziehungen in Kohärenz summiert. Aber er hat nie behauptet, dass einige Kilo Dynamit nicht auch herrliche Möglichkeiten auftauchen lassen könnten.

Außerdem sind es sicher nicht einige Erleuchtete der Dekonstruktion, die die Möglichkeit in sich tragen, die Revolution zu machen. (Nach dem Modell des Zarathustra, der sich zehn Jahre in die Berge zurückzog und eines Tages den Drang verspürte, seine Weisheit mit den einfachen Leuten zu teilen.) Die Revolution (und in geringerem Maße auch der Aufstand) ist eine soziale Tatsache, das heißt, ob man nun will oder nicht, dass man irgendeinen Moment braucht, wo sich eine größere Bevölkerungsschicht erhebt. An der Seite der berühmten „unpolitischen Menschen“ (wie wir manchmal hören) können wir die Revolution machen , und nicht nur mit ein paar anti-autoritären und super-dekonstruierten Hanseln, die nur an etwas teilnehmen können, das ihren ultra-reduzierten Maßstäben entspricht. Sie kann nur das Werk dieser „normalen“ Menschen sein, mit ihren Qualitäten, aber auch ihren vielfältigen Fehlern, Menschen, die oft Lichtjahre von dieser Frage (und wohl auch anderen...) entfernt sind.

Aber zurück zu unseren Schmetterlingen. Armand behauptete, dass „in der Liebe, wie in allen anderen Bereichen, es die Fülle ist, die die Eifersucht und den Neid zerschmettert. Deshalb ist die Formel der freien Liebe: „Alle mit jedem, jeder mit allen“, berufen, das Motto aller ausgewählten und durch Affinität vereinten anarchistischen Milieus zu sein.“ Aber wie kann man, damals wie heute, sich anmaßen, mit einer solchen Arroganz und Zufriedenheit zu behaupten, dass dies DIE Art („Formel“!) der Liebes- und sexuellen Beziehungen ist, die von DEN Anarchisten (oder irgendeinem anderen sozialen Milieu) angenommen werden soll? Der Begriff „freie Liebe“ selbst enthält bereits diese Art des Ausschließens, da er impliziert, dass nur die von ihm gemeinte Beziehungsform erlaubt, Freiheit zu erreichen – wohingegen wir jedwede Möglichkeit ernsthaft bezweifeln, die Freiheit durch die Liebe zu finden, nenne man diese „frei“ oder nicht. Denn ist es wirklich die Freiheit, die wir durch die Liebe suchen?

Machen wir uns nichts vor, im Zeitalter der Postmoderne wird der Begriff der Freiheit leider zu oft als Vorwand zur Negierung der Individuen benutzt, zur Negation jedes wirklichen Willen, die Welt zu verändern. „Das ist mir scheißegal, und du kannst mich mal“, scheint die neue Freiheit zu sein. In anderen Worten, die totale und unteilbare Freiheit, individuell, aber bedingt durch die Freiheit der anderen (die im Mittelpunkt anarchistischer Perspektiven ist, seitdem sie Gegenstand von Debatten und Diskussionen unter Anarchisten sind) sieht sich durch die Art des Liberalismus ersetzt, der bereits ohnehin omnipräsent ist. Dies fügt sich in einen Normalisierungsprozess ein, der seine Gewalt durch die Marginalisierung von Individuen ausdrückt, die sich instinktiv seinen Normen widersetzen, indem man ihnen erklärt, dass sie das Problem sind, falls diese Normen für sie nicht funktionieren. Aber das ist nicht verwunderlich. Letztendlich ist dieses kleine Milieu ein Produkt dieser Welt, und umgekehrt reproduziert es diese Welt.

Aber dieser Liberalismus hat tausend Facetten und geht bei Weitem über die Frage der emotionalen Beziehungen hinaus. Wenn man fortwährend über Ideologien nachdenkt und überlegt, welche Schlüsselwörter man verwenden und welche man verbannen soll, endet man damit, zu nichts mehr fähig zu sein, als sich selbst den Nabel mit Selbstzufriedenheit in einer kleinen komfortablen Blase zu betrachten, in die es einigen Milliarden anderen Menschen verboten ist einzudringen, und dies trotz der ultra-sozialen Fassade der Diskurse.
Dann wird uns gesagt, dass die Freiheit das Nomadenleben ist, das Herumflattern [12] – aber wie soll man sich dann in einem echten revolutionären Projekt mit Kontinuität in einem Stadtteil, einem Dorf, einer Region einbringen, mit einer Publikation, einem Treffpunkt, einem Kampf? Diejenigen, die sich frei fühlen, von einem Kampf zu einem anderen zu flattern, bemerken sie, dass sie es sich nur erlauben können, weil einige die Kontinuität dieser Werkzeuge aufrechterhalten? Dass dieses romantische Umherflattern eigentlich nur eine andere Form des komfortablen Konsum ist?

Und wenn wir von den revolutionären Bemühungen, wie von einer langwierigen Arbeit sprechen, die erhebliche Anstrengungen und teilweise „Opfer“ [13] erfordern – seiner Zeit, manchmal seiner Freiheit und oft seiner kleinen Annehmlichkeiten – wie viele empören sich dann? „Mühe, Arbeit – bäh, scheiß Kapitalisten!“ Dann herzlichen Glückwunsch, liebe Kameraden und Gefährten, ihr seid frei, ihr seid keine Kapitalisten, ihr seid super Dekonstruierte, aber was bringt’s? Die Geschichte behält von euch, dass ihr euch gut amüsiert habt, aber die anderen Revolutionäre behalten lediglich von euch, dass ihr sie nur konsumiert habt, und dort ist es im Grunde, wo sich der Kapitalismus befindet: Im Konsum der Bemühungen der anderen, aber auch im Konsum der Körper.

Aber damit die bösen Zungen nicht ihr Gift mit Hilfe meines Mundes spucken: es geht nicht darum, die revolutionären Praxis dem Vergnügen entgegenzusetzen. Vor allem möchte ich präzisieren, dass die Freude nicht unbedingt in den Formen liegt, die das Spektakel ihr allgemein gibt. Aber es handelt sich hier nicht darum, irgendeine Askese oder Rigorosität zu preisen, denn was hätte es gebracht, so sehr den Aktivismus zu kritisieren, wenn wir seine Fehler früher oder später reproduzieren? Jedenfalls scheint sich heute, wie unterschiedliche Erfahrungen zeigen, das revolutionäre Projekt nicht in den sozialen Kategorien und Rollen zu finden, die im falschen Gegensatz von Aktivismus einerseits und dem dekonstruktivistischen bzw. „wüschenden“ [14] Milieu andererseits erscheinen. Wer daran zweifelt, sei versichert, dass man Freude und Zufriedenheit daran findet, Wege der Subversion zu konstruieren, und dass das Monopol der Ekstase und der Freude nicht den Schmetterlingen vorbehalten ist. Denn wie schön er auch ist, der Schmetterling ist ein Insekt, das nur wenige Tage lebt und dessen Fähigkeit, Projekte zu entwickeln und die Zukunft zu berücksichtigen, ist somit stark eingeschränkt. Ein Schmetterling ist niedlich, und es ist sicher romantisch, sich mit ihm zu vergleichen, aber man muss sich entscheiden, Revolutionär zu werden oder sich in der Kurzsichtigkeit und augenblicklichen Vergnügen der Inkonsequenz und dem liberalen/libertären Linkstum zu suhlen.

Wir verstehen unter Linkstum nicht unbedingt ein spezifisches Milieu, sondern Tendenzen, die sich ein wenig überall in dem Milieu wiederfinden, sei es bei den Anarchisten, Kommunisten, Hausbesetzern und selbst bei den glühendsten Befürwortern eines vollständigen Bruches mit der Linken. Wie wir gesagt haben, ist eine der wichtigsten Charakteristiken des Linkstums die Umkehrung der herrschenden Werte, die, wenn sie zu einer Form des Libertarismus [Die Ideologie „für die Freiheit“] hinzugefügt wird, Liberalismus wird.
Der Mai 1968 hat wohl zu der Geburt dieser neuen, auf sich bezogenen Formen der Linken beigetragen, wenn auch manchmal ohne es zu wollen. In einer bürgerlichen Gesellschaft mit erstickenden und gut verankerten moralischen Werten, sind viele nur bestrebt, das Gegenteil dessen zu machen, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Aber das hat ihnen eigentlich nur erlaubt, die Fehler dieser Gesellschaft spiegelverkehrt zu reproduzieren. Drogen sind ein absolutes Tabu in der Gesellschaft, also warum nicht einen Totempfahl machen und sich frei zwischen zwei Überdosen fühlen, mit dem Kopf in der Gosse? Das Paar, die erste Zelle der Entfremdung in dieser Gesellschaft? Dann lass uns frei sein, an Sexorgien teilnehmen, so viel ficken, wie wir können, die Eroberungen für einen Tag sammeln und uns frei fühlen, während andere auf der Strecke bleiben, weil sie Menschen liebten, die sie nur konsumierten.

Es genügt, eine Broschüre über die „freie Liebe“ aufzuschlagen, über die sogenannten „befreiten“ Beziehungen, die Nicht-Exklusivität, die „emotionale Bequemlichkeit“ und die berühmten „Emotionen“, um sich klarzumachen, dass das einzige, was hier vorgeschlagen wird, die absolute Negation des Individuums ist und sein Konsum mit dem einzigen egoistischen Ziel eines augenblicklichen Vergnügens, meistens in einem wirtschaftlichen Verhältnis der Akkumulation, des Profits und des sozialen Kannibalismus. Für den einen erscheint es so, dass die Freiheit die Möglichkeit ist, mit fünfzig Menschen zu ficken und die „Wahl zu haben“. Verdinglichung auf allen Ebenen! Heute Abend wird es Jean sein, er ist groß und ich treibe es gern mit einem Großen, ich hebe mir Joséphine für morgen auf, weil ich gerne reife Frauen mag und übermorgen meinen Fetisch-Trip mit Mohammed. Hemmungsloses Vergnügen!
Aber dieses Verhältnis ist das der Akkumulation des Kapitals, diesmal eines „emotionalen Kapitals“, wobei die Waren die Menschen sind, die als soziale Annehmlichkeiten betrachtet werden, als angesammelte emotionale Güter auf einem Liebeskonto. So sind wir also frei zu benutzen und benutzt zu werden, aber dann hat das Wort „Freiheit“ keine Bedeutung mehr: die Sozialdemokratie hat gewonnen, die Wirtschaft hat gewonnen, die Epoche hat gewonnen, sie haben sogar unsere intime Gefühle und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen durchdrungen, bis alle Form der freien Assoziation von Individuen veraltet sind.

Während diese Welt uns Glauben macht, dass unsere Freiheit darin besteht, im Supermarkt zwischen mehreren Marken von Klobürsten wählen zu können, funktioniert die „freie Liebe“ oder „dekonstruierte“ Polyamorie nach genau demselben Muster. Diese ist, so wie sie im Milieu besteht, meist nicht mehr wert als diese „Freiheit zu konsumieren“, sie ist letztendlich sehr ähnlich der des ausschweifenden bürgerlichen Milieus oder der Jungreichen, sehr ähnlich der der „sex-friends“ und anderer „fuck-buddies“, um die sich die Börsenhändler und die hippen Kerle aus der City [of London] reißen. Ein Unterschied ist aber, dass die bürgerliche Ausschweifung ihren Praktizierenden wahrscheinlich durch das Übertreten oder Umgehen von Normen einen Nervenkitzel verschafft, sie zittern lässt angesichts ihrer Subversion von moralischen Werten und ihres Nonkonformismus, wobei dieser sehr begrenzt und oberflächlich ist. Die Ausschweifung des Milieus ist davon sehr verschieden , insofern sie eine relative Mehrheitsnorm ist, die einem zu der vagen Empfindung verhelfen soll, den ideologischen Standards des Milieus zu entsprechen. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass das persönliche Verlangen jedes einzelnen viel komplexer ist, da es sich naturgemäß in ständiger Bewegung befindet und nie statisch ist, wie die festgelegten und zwangsläufig vereinfachenden Regel eines Milieus oder irgendeiner Gemeinschaft.

Teilen Jean, Josephine und Mohammed wirklich die gleiche Sicht auf die Beziehungen, die ich mit ihnen habe, unter dem einzigen Vorwand, dass wir darüber „klar“ diskutiert haben? Beginnen wir alle aus einer gleichen Lage, bevor wir uns auf eine Beziehung dieser Art einlassen?
Reicht die Ideologie, die mit der Reduktion der Sprache in einer Welt der Herrschaft zusammenhängt, wirklich aus, um die Sache klar zu machen?
Wenn man für einen Augenblick ihre unterschiedliche Haltung beiseite lässt, gibt es im Grunde kaum Unterschiede zwischen dem frei-liebenden Konsumenten und dem polygamen Emir, der unter dem gleichen Dach jede Nacht eine andere aussucht, mit der er Lust zu ficken und/oder zu lieben hat, während die anderen ihm Essen vorbereiten. Ein einziger wesentlicher Unterschied ist vielleicht, dass in dem von einer Mischung aus Feminismus und Linkstum beeinflussten Milieudie Frauen manchmal von einer größeren Toleranz in der Praxis des Harems profitieren. Ein wenig wie die Männer im Rest der Gesellschaft.

Die am meisten ideologisierten Anhänger der freien Liebe machen am Ende die gleichen Fehler wie alle, die blind durch irgendeine Ideologie sind. Sie ersetzen die tatsächlichen Individuen durch austauschbare Personen-Typen, und negieren ihre Komplexität und ihre Einzigartigkeit. Wenn zwei Menschen eine ultra-definierte Beziehung anfangen, das heißt mit der berühmten „klaren“ Diskussion am Anfang, was jeder von dieser Beziehung und ihren Modalitäten erwartet, müsste man sich zunächst die Frage des Gleichgewicht zwischen diesen beiden Menschen stellen. Ob einer der beiden Menschen bereits mehrere Liebesbeziehungen hatte und der andere nicht. Ob einer der beiden gesellschaftlich als „hässlich“, „schön“ oder „charismatisch“ betrachtet wird, und der andere nicht. Ob einer der beidenn von dem anderen Zuneigung erwartet, wohingegen der andere Liebe erwartet. Ob einer der beiden glücklich ist, während der andere unglücklich und unsicher ist, oder, wenn einer die Sprache mit mehr Leichtigkeit als der andere beherrscht. Können wir diese Dinge leugnen?

Wie viele Menschen haben, obwohl sie nicht besonders gerne eine nicht-exklusive Beziehung mit dem anderen haben wollten, trotzdem eine solche Beziehung akzeptiert, um den Wünschen des anderen zu entsprechen? Aber ist diese Zustimmung, dieses „Ja“, wirklich ein freies „Ja“? Denn, wenn Jean in Jeanne verliebt und in einer schwachen Position ist, und wenn Jeanne ihm ihren Willen einer nicht-exklusiven und paritätischen Beziehung erklärt, wird Jean das akzeptieren. Und Jeanne hat den Eindruck, dass alles einfach und unkompliziert ist, ohne sich zu fragen, ob Jean nicht auch das Gegenteil akzeptieren würde.

Ist also dieses Ja aus Schwäche so verschieden von dem „Ja“, das wir einem Chef geben, um zu arbeiten?Wir behaupten, dass es das Gleiche ist, und dass in diesen Fall von Freiheit zu sprechen, fortzuführen heißt, was Nietzsche „diese sublime Selbstbetrügerei, die Schwäche als Freiheit auslegt“ [15] nannte.Die Ideen der sexuellen Emanzipation sind schön und gut gemeint, aber jeder von uns gibt ihnen, in dem er sie in den Schmelztiegel der eigenen Individualität und der Anerkennung der Einzigartigkeit des Anderen legt, unterschiedliche Ausprägungen. Wie wir bereits sagten, behaupten wir, dass es keine Regel gibt, die die menschlichen Beziehungen bestimmen kann, aus den gleichen Gründen, die wir dem Gesetz entgegensetzen, da sie niemals die Komplexität der Individuen berücksichtigen kann, die unter seiner Fuchtel stehen [16]. Daher stellen wir ihr die Ethik entgegen, natürlich eine individuelle und, so hoffen wir, eine intuitive, dienicht aus einer ideologischen Broschüre gelernt und schlecht verdaut wurde. Wir behaupten ebenfalls, dass die einzige Möglichkeit einer ein klein wenig emanzipierten Beziehung die ist, die im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit das Wohl der eigenen Person und der anderen trägt, frei von den Fallen und den Erfordernissen der Ideologie, und indem wir die Nabelschau überwinden. Warum ist die einzige Regel der Liebe nicht die, auf den anderen zu achten, ihn gut, als Individuum zu behandeln, anstatt diese dumme Regeln anzuwenden, die uns frei machen sollten, aber nur durch das persönliche Vergnügen, ohne die geringste Sensibilität für das Gegenüber? Und wir machen, nebenbei gesagt, einen analytischen Fehler, die Kritik der Ökonomie einfach auf die formelle Wirtschaft zu beschränken, anstatt sie inden sozialen Verhältnissen aufzuspüren , die unsere entfremdeten Beziehungen bestimmen.

Um die soziale und normative Verpflichtung des Paares zu zerschlagen, wählt man also die ideologische Polyamorie und man produziert eine neue Norm, die komfortabler ist, bis sich neue menschliche Tragödien andeuten. Und es ist kein Zufall, wenn 68, jenseits der unvorstellbaren Erfahrungen der Besetzungen und der Zerstörung von Fabriken und Universitäten, der Zusammenstöße und der Barrikaden und allgemeiner, der wunderbaren Erfahrung mit der Fingerspitze die Möglichkeit einer wirklichen Subversion des Bestehenden berührt zu haben, – Es ist kein Zufall, dass sich jenseits dieses Klischees diverse menschliche Tragödien verstecken, Selbstmorde, Überdosen, Verrat und unendliche Trauer. Es ist kein Zufall, dass sich hinter jeder großen Erfahrung der Emanzipation (beziehungsweise Erfahrungen, diezumindest von ihren Protagonisten als emanipatorisch wahrgenommen wurden) sich ebenso große menschlichen Tragödien verstecken, vom Mai 68 bis zu Woodstock, von der „sexuellen Befreiung“ zu den Maoisten und zur radikalen Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten in den 60/70iger Jahren. Es ist auch kein Wunder, dass so viele es verstanden, wieder auf ihre Füße zu springen und heute die Führungsschicht dieser Welt bilden, während sich so viele andere, die die Ideen beim Wort genommen haben, seit über 40 Jahren dahinvegetierend im Knast von allen vergessen wiederfinden, und die Tatsache bezahlen, nicht inkonsequent gewesen zu sein, wie die anderen, nicht nur den augenblicklichen Genuss gesucht zu haben.

Diejenigen, die nur da waren, um sich zu amüsieren, zu flattern und sich den Bauchnabel zu befreien haben gut profitiert. Diejenigen, die glaubten und noch immer glauben, trugen die Kosten. Denn der Profit der einen ist die Ausbeutung der anderen, mit den Waffen des Kapitals und der Arbeit, wie mit denen der Ideologie und der Kameradschaftlichkeit der Kaserne, sei diese autonom oder parteilich.

Sollen die Schmetterlinge nur weiter Nektar sammeln, aber die Blumen mögen dagegen revoltieren!

[/August 2013,
Aviv Etrebilal.
/]

[org. Papillons, amour libre et idéologie – Lettre sur l’inconséquence, Aviv Etrebilal, Ravage Editions (Paris), 2013.]


[1„Amour libre“ vraiment ? Et après ? („Freie Liebe“, wirklich? Und dann?) Veröffentlicht am 20.06.2013 hier : http://lecridudodo.noblogs.org/

[2Es ist kein Zufall, dass in all diesen Ländern das antiautoritäre Milieu von French Theory durchdrungen wurde.

[3[Anm.d.Ãœ.] „En-Dehors“ war der Titel einer französischen anarchistischen Zeitschrift, die von 1891 bis 1893 von Zo d’Axa herausgegeben wurde und von 1922 bis 1935 von Emil Armand.

[4Zum Beispiel unterscheidet sich diese Rhetorik sehr von der Sichtweise eines Zo d’Axa oder der sogenannten „bande àBonnot“ [Bonnot-Bande].

[5[Anm.d.Ü.] Die Amischen sind eine protestantische Sekte, deren Mitglieder heute vor allem in den USA leben.

[6[Anm.d.Ü.] Was „Hygienismus“ auf Französisch bedeutet, ist eine politische, soziale, städtebauliche und medizinische Doktrin, die die westliche Gesellschaft durch zahlreiche Anwendungen revolutioniert hat: Einäscherung, Kanalisationsnetz, Müllbeseitigung, Vorbeugung gegen Krankheiten, Zersiedelung gegen die Verslumung...

[7Siehe die Experimente von Charles Fourier, der Utopisten, das Phalansterium, usw.

[8Von den Kibbuzim (Gemeinschaften auf dem Land nach 1968) bis zu der Pseudo-Kommune von Tarnac, usw.

[9Siehe Contre l’amour (Gegen Liebe), Iosk Editions, August 2003, lesbar (auf Französisch) im infokiosques.net.

[10Broschüren, die an jene erinnern, die von der Reformierten Kirche der fünfziger Jahre in den USA vertrieben wurden.

[11In einem Artikel aus der Zeitung Le Révolté im Jahre 1887. Aber wir möchten klarstellen, dass er auch sieben Jahre früher und immer in der gleichen Zeitung zu der „permanenten Revolution mit Wort, Schrift, Dolch, Gewehr, Dynamit“ aufrief.

[12[Anm.d.Ü] Hier gibt es auf Französisch ein Wortspiel, welches der Grund für den Titel der Broschüre ist: das Verb „papillonner“, das aus dem Wort „papillon“ (Schmetterling) entstammt, bedeutet „herumflattern“, „flatterhaft sein“, sich verzetteln, da und dort hingehen ohne sich wirklich für irgendwas einzusetzen.

[13Hier benutzen wir absichtlich einige Schimpfwörter, um die (Schutz)Schilder (hoch) zu heben, die zu leicht zu reizen sind. Aber natürlich ist Opfer kein Wort, das wir verallgemeinern möchten.

[14[Anm.d.Ãœ.] „L’autonomie désirante“ (wünschende Autonomie) ist eine Strömung, die in Frankreich in den siebziger Jahren aus der Autonomie hervorgeht. Ihr Ziel ist, nicht mehr nur um ökonomische Themen zu kämpfen, sondern ausgehend von den Wünschen den Individuen.

[15Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887.

[16Natürlich über die Tatsache hinaus, dass sie immer der Macht und ihrer Aufrechterhaltung gehört.