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Das ist kein Aufstand

Donnerstag 1. Oktober 2015

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Ich möchte weder auf alles spucken noch mich über alles stellen, was im Zuge der so genannten „Bewegung gegen das Arbeitsgesetz“ passiert. Manchmal dienen die Worte genau diesem Zweck. Schließlich ist es wahr, dass sprechen und schreiben sehr beschränkte Anwendungen unserer körperlichen und geistigen Fähigkeiten sind. Es gibt andere, die genauso wichtig sind: Arme, die Gesten machen, Beine die zu laufen wissen, Herzen, die schlagen. Die Worte trennen sich zu leicht von diesen und laufen so Gefahr, eine Welt für sich zu bilden. Man geht dieses Risiko immer ein, wenn man seinen Mund aufmacht oder seine kleinen Finger in Bewegung setzt, um zu schreiben. Und dennoch…

Während ich mich, wie nicht wenige andere, über einige Momente voller Leben im Zuge dieser Bewegung freue, erstaunt mich der Enthusiasmus gewisser Leute. Ich höre, dass es „immerhin interessante Dinge auf dem Platz der Republik gibt“, letztendlich einfach, weil das ein Ort ist, an dem man sich treffen kann. Ich höre, dass „wir mehr werden“, weil mehr Leute als früher auf den „autonomen“ oder „unabhängigen“ Demos sind – je nach Geschmack. Ich höre, dass die Gewerkschaften sich „radikalisieren“, weil einige ihrer Mitglieder sich bei Demonstrationen vermummen. Ich höre auch, dass wir „kämpferischer“ werden, weil es unabdingbar geworden ist, bei den Demos Schwimmbrillen und Tücher zu tragen, dank der Großzügigkeit der Bullen beim Verteilen von Tränengas. Außerdem hassen mehr Leute die Polizei, weil letztere gezeigt hat, dass sie wirklich sehr gemein ist. Und für manche kann all dies mit einem „Alles wird explodieren!“ zusammengefasst werden, gerufen von ein paar Hooligans, die das Stadion gegen das „soziale Feld“ ausgetauscht haben.

Ich bestreite keiner dieser sowohl deskriptiven als auch optimistischen Beobachtungen. Was die Beschreibung der Tatsachen angeht, möchte ich niemandem einen Fehler vorwerfen. Jedoch, was die Enthusiasten angeht, widerspreche ich ihrem Enthusiasmus.

Denn, genau wie beim Sprechen und Schreiben, geht vieles, was an Form gewonnen wird, genauso an Inhalt verloren, und es wäre ein Fehler zu glauben, das eine könne das andere ersetzen. So dreht sich heute beispielsweise ein Großteil der Diskussion um die Frage der Sachbeschädigungen. Und ich spreche hier nicht von Le Monde, Libération, RT, Figaro und all den anderen recht berühmten Feinden. Ich spreche von „aktivistischen“ Quellen, die sich häufig der Rechtfertigung „radikal“ genannter Aktionsformen widmen. Es geht in alle Richtungen: Die Jugendlichen machen Dinge kaputt oder greifen die Polizei an, weil sie die Schnauze voll haben, oder einfach, weil sie Jugendliche sind, die ihr nicht verstehen werdet, oder sie waren nicht so, bevor die Polizei gezeigt hat, wozu sie fähig ist, oder sie hassen die miserable Zukunft, die man ihnen verspricht, oder... man sucht kurze und sparsame Formulierungen, um zu rechtfertigen, was die Leute aus ihren eigenen Motiven taten, als würden letztere einfach durch die Taktiken selbst offen gelegt. Motive, die oft nicht kurz und nicht notwendiger Weise ökonomisch sind. Öfter sind die Motive komplex, manchmal vage. Wie kann man nur eine solche Sache – von welcher Seite auch immer – auf eine Weise erklären, die so nah an der Methode der Soziologen ist? Letztere suchen wenigstens willkürliche Übereinstimmungen, die mit ihnen statistisch übereinkommen, während für diejenigen, die um jeden Preis eine bestimmte Kampfmethode rechtfertigen wollen, alles bereits aus der Form klar ist.

Aber warum soll man nach diesen knappen Rechtfertigungen suchen? Um davon zu überzeugen, dass schwere Zeiten der Schwere angemessene Maßnahmen erfordern? Fällt man damit nicht in dieselbe langweilige Debatte um „Gewalt“ und „Gewaltlosigkeit“ zurück, wenn auch in einem leicht modernisierten, besser an unsere Epoche anpassten Vokabular?

Ermüden wir uns nicht. Aber wenn wir schon einmal mit den Sachbeschädigungen angefangen haben, sprechen wir darüber, aber diesmal nicht, um sie zu rechtfertigen. Im Anschluss an eine Blockade im Rahmen der sogenannten Bewegung gegen das Arbeitsgesetz setzten Anfang April diesen Jahres ein paar Schüler des grauenhaften Leonardo-da-Vinci-Gymnasiums in Levallois-Perret ein paar Mülleimer in Brand. Das Feuer beschädigte dieses Gefängnis. Fast zwei Monate später werden 47 Gymnasiasten von der Landespolizei vorgeladen, einige werden in Gewahrsam genommen. Es gibt Initiativen, um die Beschuldigten zu unterstützen, Anwälte zu finden, sie zu beraten, etc. All das ist offensichtlich notwendig. Aber warum haben die Schüler das überhaupt getan?

Manche erklären, dass die Schüler sehr, sehr erregt gewesen seien, weil die Autoritäten der institutionalisierten Verblödung ihnen nicht die Erlaubnis gegeben haben, demonstrieren zu gehen. Obgleich ich nicht nach den „wahren“ Motiven der – hoffentlich unbekannten – Verursacher dessen, wovon Millionen von Schülern träumen, suchen will, möchte ich folgende sehr plausible Hypothese aufstellen: Die Tat, seine Schule anzuzünden, hat mehr mit der Schule zu tun als mit dem Arbeitsgesetz. Genauer gesagt hat sie mit einer recht konkreten Erscheinungsform dieser autoritären und kommerziellen Welt zu tun, unter der Kinder und Jugendliche täglich leiden. Einige derselben haben die günstige Gelegenheit ausgenützt, um ihrem Ekel Ausdruck zu verleihen.

Obwohl die aktuelle Bewegung oft präsentiert wird, als richte sie sich nicht nur „gegen das Arbeitsgesetz“, sondern auch gegen „seine Welt“, werden nur wenige andere Aspekte der Letzteren zur Sprache gebracht. Das geht so weit, dass einige auf der Demo am 26. Mai eine Filiale der Wohltätigkeitsorganisation Emmaus vor Angreifern beschützten. Sie kollaboriert mit der Abschiebungsmaschinerie und wurde aufgrund dessen bereits vorher angegriffen. Obgleich manche vielleicht nicht wissen, was Emmaus ist, so weiß doch jeder, was die Schule ist. Sie ist eine Institution, die für die „Welt des Arbeitsgesetzes“ vielleicht wichtiger ist als das verfluchte Gesetz selbst.

Dennoch verteidigen die mit den Gymnasiasten Solidarischen diese nur als Angeklagte und nicht als Schüler, die die Schule hassen – jenseits aller juristischen Erwägungen über ihre „Schuld“ oder „Unschuld“. Sicher ist die technische Arbeit wichtig. Aber wenn man im Rahmen der Bewegung „gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt“ mit den Schülern solidarisch ist, wie ist es dann möglich, dass dieser Aspekt „seiner Welt“, die Schule, unberührt gelassen wird, zugunsten der Frage der Anklagen?

Daher kommt meine Lustlosigkeit. Trotz der Taktiken – sehr schöner, manchmal weniger –, und trotz der immer vermummteren Demos scheint mir das „gegen seine Welt“ dieser Bewegung immer nebulöser. Wenn man sich in den Cafés, auf den Straßen, im öffentlichen Nahverkehr, auf der Arbeit umhört, dann drehen sich die Gespräche – mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen – um die Sachbeschädigungen, die Demos, die „Nächte des Schlamms“ (nuits de boue), manchmal um die „Polizeibrutalität“ – kurz: um technische Punkte, als gäbe es nichts anderes als das. Manche sind dafür, andere dagegen, die Mehrheit pfeift drauf. Sehr wenige scheinen das Wesentliche und den Grund zu berühren, warum wir rausgehen – allein oder in Gruppen, bei Tag oder bei Nacht, mit oder ohne Demo – um unserem Ekel vor dieser Gesellschaft der Ware und der Autorität ein wenig Kohärenz zu verleihen: die Unvereinbarkeit des Lebens, das uns aufgezwungen wird, mit dem, das wir führen möchten – und das erst seinen Namen wert wäre.

Es ist nicht so wichtig, dass Leute mit den Aktionen Sympathie empfinden, selbst mit den „radikalsten“. Ob wir nun bei den „autonomen“ Demos mehr werden oder nicht, ob wir vermummter sind den je – minoritäre Akte der Revolte sind nicht auf Anhänger aus. Sie wollen einerseits zur sozialen Spannung beitragen, um diese Gesellschaft zu polarisieren und andererseits das Leben etwas weniger beschissen machen. Wenn wir „uns aufregen“, wenn wir „aus dem Ruder laufen“, wenn wir einfach alles kaputt machen, so tun wir das nicht, weil uns dieses Gesetz davon abhalten wird, in dieser Gesellschaft erfolgreich zu sein; sondern, weil noch die geringste Perspektive des Erfolgs allem zuwider läuft, was das Leben lebenswert macht: Schönheit, Leidenschaft, Glück, Freiheit – lasst uns das nicht messen.

Es gibt jedoch, zugestandenermaßen, Risse, die sich um Zusammenhang mit dieser Bewegung öffnen. Es gibt Momente des Bruchs. Es gab sie schon vorher und es wird sie auch in Zukunft geben. Lasst uns fortfahren, sie zu suchen und zu ihnen beizutragen. Aber lasst uns in einer Weise fortfahren, dass, wenn diese Bewegung stirbt – und sie wird mit Sicherheit sterben – die Risse nicht aufhören, sich zu öffnen und weiterhin Brüche auftauchen, wo niemand sie erwartet. Wenn wir es eines Tages erreichen, sie alle zu verbinden, werden wir uns vielleicht einer wirklichen Chance gegenüber sehen, diese unerträgliche Gesellschaft zu untergraben.

J.L., 1. Juni 2016.